Die Rettung von Kerrio

 

Die Waisengeschichte dieses kleinen Kalbs begann in einer Nacht, in der lautes Gewehrfeuer im Kerio-Tal im Norden Kenias zu hören war. In der Gegend leben etwa 800 Elefanten, und leider ereignen sich dort auch immer wieder bewaffnete Konflikte zwischen den Stämmen der Pokot und der Marakwet, die über viel zu viele illegale Feuerwaffen verfügen.

An diesem schicksalhaften Abend Ende August gab es offenbar einen Streit um Viehherden, der sich zu einem Feuergefecht auswuchs. Eine Herde von Elefanten, die sich gerade in der Nähe befand, wurde davon aufgeschreckt und flüchtete in Panik. Am nächsten Morgen, dem 31. August 2021 hörten Hirten Rufe eines Elefanten, und als sie den Geräuschen nachgingen, stießen sie auf ein kleines Kalb, das auf der Seite im Gras lag. Wie schlimm es um das kleine Baby stand, wurde erst viel später klar, aber die Hirten benachrichtigten den Kenya Wildlife Service (KWS), dessen Ranger bald zur Stelle waren. Sie luden das Kalb, das noch immer im Gras lag, auf die Ladefläche ihres Land Cruisers und beeilten sich, eine geeignete Unterkunft für es zu finden, bis eine Rettungsaktion angelaufen war. Sie brachten das Kalb schließlich auf einem Schulgeländer unter, wo später der Helikopter würde langen können.


Die Rettung wurde durch diverse Umstände erschwert: Die Gegend um Chesogon wird häufig von Konflikten heimgesucht und liegt weit nördlich von Kenias Hauptstadt Nairobi. Eine Fahrt dorthin wäre so gut wie unmöglich, daher wurde der Pilot Phil Matthews mit seinem Hubschrauber engagiert. Julius, einer der erfahrensten Keeper des Waisenhauses des Sheldrick Wildlife Trust (SWT) flog mit. Dazu kam, dass die beiden bis zu ihrem Ziel auch noch einige schwere Regenstürme umfliegen mussten!

Schließlich landeten sie gegen 15 Uhr nachmittags auf dem Schulhof, wo das Kalb schon wartete. Julius gab ihm sofort eine Infusion, und es wurde in den Helikopter gehievt, während dieser für den Rückflug betankt wurde. Viel Zeit blieb nicht, denn schon bald würde es dunkel werden! Daher machten sie sich sofort wieder auf den Weg zurück nach Nairobi. Dort angekommen, wurde das Kalb auf einen Pickup umgeladen, bis zum Tor seines neuen Stalles gefahren und dann dort hinein getragen. Es bekam den Namen Kerrio, nach dem Tal, in dem es gefunden wurde.

 

 

 

 

Als es für das kleine Mädchen Zeit war aufzustehen, bemerkten die Keeper etwas sehr beunruhigendes! Bis dahin hatte es immer nur gelegen, und als es aufstehen sollte, erwiesen sich ihre Hinterbeine als quasi nutzlos – sie schienen fast leblos und wackelten hin und her, wann immer Kerrio versuchte, das Gewicht darauf zu verlagern. Die Keeper schafften es schließlich, sie aufzurichten, aber es war klar, dass sie überhaupt kein Gefühl in den Hinterbeinen hatte. Zuerst hofften sie noch, dass sie vielleicht nur eingeschlafen waren, weil das Baby so lange gelegen hatte. Eine Rückfrage beim zuständigen Ranger des KWS in Pokot ergab, dass sie von Anfang an gelegen und niemals gestanden hatte, selbst als neugierige Anwohner sich um sie herum versammelt hatten, und es daher nicht so schien, als ob sie stehen konnte.

 

 

 

 

Das bedeutete natürlich noch einmal ganz neue Komplikationen. Es ist unklar, ob ihre Behinderung schon vorher bestanden hatte oder die Folge des Schusswechsels in Chesogon war. Möglicherweise konnte sie nicht mehr mit der Herde mithalten, als diese vor den Gewehrsalven davon lief; es könnte aber auch sein, dass sie bei der panikartigen Flucht ihrer Familie versehentlich umgerannt und verletzt worden war. Die Beine zeigten Spuren von etlichen Verletzungen, doch auch ihre Schulter ist schon ungewöhnlich stark entwickelt – unter Umständen hatte sie schon einige Zeit mit diesem Problem zu kämpfen gehabt. Das wird sich aber nun nicht mehr enträtseln lassen.

 

 

 

 

 

 

Trotz ihrer teilweisen Lähmung, hatte Kerrio kaum Probleme sich im Waisenhaus einzuleben. In ihrer ersten Nacht schlief sie gut und fraß auch von Anfang an gut. Am Morgen danach ging sie mit den Keepern eine Runde um das Gelände, was ihr sehr gut zu gefallen schien. Dabei zog sie ihre Hinterbeine mehr oder weniger hinter sich her, aber schien sich trotzdem ganz gut fortbewegen zu können. Es folgten noch mehr solcher Spaziergänge, bis sie nach kurzer Zeit auch bereit war, sich den anderen Waisen anzuschließen und mit ihnen in den Wald zu gehen. Mit der Zeit sind ihre hinteren Gelenke auch schon wieder etwas kräftiger geworden, und sie kann auch schon allein aufstehen. Sie lässt es sich nicht nehmen, bei allen Aktivitäten der Herde mitzumachen, auch wenn sie für alles ein wenig länger braucht. Alle sind guter Hoffnung, dass sich ihr Zustand mit der Zeit weiter verbessern wird. Es wurden einige Röntgenbilder angefertigt, die von verschiedenen Tierärzten begutachtet wurden – was aber zu keinen wirklich schlüssigen Ergebnissen führte.

 

 

 

 

Die anderen Waisen haben sich diesem niedlichen kleinen Mädchen jedenfalls wunderbar angenommen. Genau wie seinerzeit bei Luggard sind alle sofort hin und weg, wenn sie Kerrio begegnen. Als sie das erste Mal bei der Herde draußen war, wurde sie von allen umringt, und ihre Artgenossen streckten die Rüssel nach ihr aus, um sie in ihrer Mitte willkommen zu heißen. Mini-Leitkuh Larro kümmert sich sehr aufmerksam um sie und sorgt regelmäßig dafür, dass es ihr gut geht. Sogar Shukuru, die sich sonst sehr zurückhält mit Zuneigungsbezeugungen, scheint einen kleinen Narren an ihr gefressen zu haben! Am meisten in ihrem Bann ist aber Kinyei, die von Anfang an wie eine Klette an Kerrio hing. Sie ließ sogar freiwillig Milchfütterungen aus, um ihrer neuen Freundin nicht von der Seite weichen zu müssen! Auch Naleku scheint sie verzaubert zu haben, und es sieht so aus, als ob sich zwischen den beiden eine sehr gute Freundschaft entwickeln wird.

Auch wenn Kerrio auf für sie traumatische Weise verwaiste, stehen die Chancen sehr gut, dass ihr eine wunderbare Zukunft offensteht. Ihre neuen Freunde in der Waisenherde wie auch die treusorgenden Keeper an ihrer Seite werden alles dafür tun.

Übernehmen Sie jetzt eine Patenschaft für Kerrio

 

 

(übersetzt aus dem englischen Original; alle Bilder © Sheldrick Wildlife Trust)