Leitkuh Murera – das Wunder, das niemand für möglich hielt

 

Elefanten können einen immer wieder daran erinnern, dass Wunder möglich sind. Von all den Waisen, die über die Jahrzehnte beim Sheldrick Wildlife Trust (SWT) aufgezogen wurden, ist Murera aber wohl das größte Wunder überhaupt.


Für Murera schien alle Hoffnung verloren, als sie im Jahr 2012 gerettet wurde – zu einer Zeit, als die Wilderei in Afrika ihren Höhepunkt erreicht hatte. Sie war auf eine vergiftete Falle für Elefanten getreten, die ihr tiefe Wunden am Hinterbein zugefügt hatte. Sie hatte vermutlich vergeblich versucht, mit ihrer Herde mitzuhalten. Schließlich musste sie gestürzt sein und sich dabei sämtliche Gelenke im Bein beschädigt haben – sie konnte ihr Hinterteil gar nicht mehr bewegen. Noch dazu hatte sie auch Wunden an ihrem kleinen Kopf, die ihr mit Sicherheit starke Schmerzen bereiteten. Keiner konnte sich ausmalen, was in ihrem Kopf vorging.

 

Mureras Zustand schien so aussichtslos, dass jeder Tierarzt dazu riet, sie einzuschläfern. Daphne Sheldrick allerdings sah in ihren Augen einen Schimmer von Hoffnung, und so überzeugte sie alle, um Mureras Leben zu kämpfen. Auch die Keeper merkten, dass dieses Elefantenmädchen einen starken Lebenswillen besaß, und sie setzten alles daran, ihr eine Chance auf Heilung zu verschaffen.

 

Zum Glück gab es so viele engagierte Menschen. Auch Peter, einer der dienstältesten Keeper in der Nursery, erinnert sich: „Murera war sehr krank, als sie im Waisenhaus ankam. Wir standen vor einer schweren Entscheidung: Sollten wir sie von ihrem Leiden erlösen und einschläfern? Aber sie hatte schon so lange um ihr Leben gekämpft, und so beschlossen wir, ihr noch eine Chance zu geben.“

Aber  Mureras Weg war voller Hindernisse. Peter berichtet weiter: „Am Anfang war es sehr schwer für alle. Murera musste rund um die Uhr versorgt werden. Wir konnten sie nicht betäuben, denn das hätte sie noch weiter geschwächt, aber nichtsdestotrotz mussten wir ihre Wunden säubern und sie sogar die meiste Zeit stützen, bis sie wieder ihre Beine belasten konnte. Einmal war sie so geschwächt, dass sie aufzugeben schien und nicht mehr fressen wollte, aber wir versuchten, sie zu überzeugen und ihr all unsere Liebe und Zuneigung zu zeigen.“

 

Schließlich zahlte es sich aus, dass sie nicht aufgegeben hatten. Langsam, aber sicher erholte sich Murera wieder. Alle jubelten, als sie einen ersten vorsichtigen Schritt auf eigenen Beinen machte, dann wieder kurze Wege auf dem Gelände der Nursery zurücklegen und schließlich auch wieder längere Ausflüge in den Wald unternehmen konnte. Es war allerdings allen klar, dass sie ihr ganzes Leben von ihren Verletzungen gezeichnet sein und humpeln würde. Etwa zur gleichen Zeit, als Murera im Waisenhaus ankam, wurde auch ein anderes Elefantenmädchen namens Sonje gerettet – mit ähnlichen Verletzungen, die sie ihr ganzes Leben behalten würde.

 

Mit der Zeit wurde die Frage drängender, was mit den beiden geschehen sollte, wenn sie zu groß für die Nursery  in Nairobi werden würden. Die beiden Auswilderungsstationen des SWT in Voi und Ithumba liegen in der endlosen Wildnis des Tsavo-Nationalparks, und obwohl diese Gegend ein idealer Lebensraum für Elefanten ist, wäre sie für Sonje und Murera nicht gut geeignet gewesen. Dort hätten sie große Entfernungen zurücklegen müssen, um genug Nahrung zu finden, vor allem während der Trockenzeit, und das wäre für die beiden mit ihren physischen Einschränkungen schlichtweg nicht möglich gewesen!

 

Und so war es ein weiterer wunderbarer Umstand, dass gerade zu dieser Zeit der SWT im Rahmen des Schutzprogramms „Saving Habitats“ die Schirmherrschaft über den Kibwezi Forest übernommen hatte. Dieser Wald, unweit der Chyulu Berge und des dort gelegenen Chyulu Hills Nationalparks, beherbergt eine gesunde Population wilder Elefanten. Es gibt dort etliche unterirdische Wasserquellen und daher das ganze Jahr über Futter und Wasser – ein Ort, an dem Elefanten wie Sonje und Murera beste Überlebenschancen haben. Also wurde dort schließlich die dritte Auswilderungsstation des SWT eröffnet: Umani Springs!

 

Murera und Sonje zogen im Jahr 2014 nach Umani Springs um. Obwohl die Station ganz auf ihre Bedürfnissen zugeschnitten ist, sind die beiden keineswegs diejenigen, um die sich hier alles dreht! Im Gegenteil. Sie haben mit der Zeit viel Verantwortung für die Waisenbabys übernommen, die jetzt hier leben. Ohne die Hilfe dieser beiden Leitkühe wäre die Gründung der neuen Auswilderungsstation sicher kein solcher Erfolg geworden. Murera und Sonje wuchsen geradezu über sich hinaus und kümmern sich jetzt gemeinsam um die Waisenherde, zu der inzwischen 15 Elefanten gehören.

 

Besonders bemerkenswert ist das angesichts der offensichtlichen physischen Einschränkungen, mit denen Murera zu kämpfen hat. Trotzdem hat sie den Respekt der jüngeren Waisen, die zu ihr aufschauen und auf sie hören. Ihre Liebe und Zuwendung half schon vielen anderen durchs Leben, von dem wunderbaren Mwashoti, für den sie die Mutter ist, die er nie erleben konnte, bis hin zu dem vor einiger Zeit verstorbenen Luggard. Bei jedem Gang durch den Wald kann man miterleben, wie sehr die anderen Murera lieben und achten: Sie läuft deutlich langsamer als ihre Artgenossen, aber sie ist nie allein unterwegs – die Herde passt sich in ihrem Tempo immer ihr an, sodass sie nie zurückbleiben muss.

 

Mureras Leben wäre vor einem Jahrzehnt beinahe zu Ende gewesen, kaum dass es richtig begonnen hatte. Heute aber schaut sie in eine bessere Zukunft – nicht zuletzt dank der großzügigen Hilfe aller Pateneltern, die solche Wunder möglich machen.

 

Philip, Chef-Keeper in Umani Springs, sagt über sie: „Murera ist die Leitkuh der Herde. Ich bin vielleicht der Chef der Keeper, aber ich bin trotzdem die Nummer Zwei hinter ihr. Sie ist das erfahrenste Herdenmitglied und die beste Team-Chefin, die man sich denken kann.“

Adan, einer der dienstältesten Keeper in Umani Springs, stimmt ihm zu: „In Kikamba, der Sprache der Kamba, die in der Gegend von Tsavo leben, gibt es ein Sprichwort: ‚Die Impala-Mutter hat keine Hörner wie ihr Sohn, aber sie ist trotzdem seine Mutter.‘ So ist es auch mit Murera – sie mag zwar nicht gut laufen können und braucht ihre Zeit, aber sie ist die Leitkuh der Herde.“

Vielen Dank an alle Pateneltern, die solche Wunder möglich machen!

 

 

(übersetzt aus dem englischen Bericht des Sheldrick Wildlife Trusts; alle Bilder © Sheldrick Wildlife Trust)